Das Wiederaufnahmeverfahren

Durchbrechung der Rechtskraft durch Wiederaufnahme

Grundsätzlich gilt im Strafrecht: Ist ein Urteil einmal rechtskräftig geworden, ist es nicht mehr angreifbar. Das Institut der Rechtskraft dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Sowohl der Verurteilte als auch die Allgemeinheit haben ein Interesse daran, dass ein Verfahren einen endgültigen Abschluss findet und letztlich nicht mehr neu „aufgerollt“ werden kann.

 

Eine Ausnahme sieht die Strafprozessordnung in Form des Wiederaufnahmeverfahrens vor. In engen Grenzen erlauben die §§ 359 ff. StPO die Wiederaufnahme eines Verfahrens und somit eine Durchbrechung der Rechtskraft, um Fehlentscheidungen zu beseitigen. Den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens können sowohl der Verurteilte als auch die Staatsanwaltschaft stellen. Dabei ist der Wiederaufnahmeantrag kein klassisches Rechtsmittel – wie Berufung oder Revision – sondern ein sogenannter „Rechtsbehelf eigener Art“. Durch den Antrag wird die Rechtskraft des Urteils auch nicht gehemmt, das bedeutet, die Strafe gegen den Verurteilten wird weiter vollstreckt, bis über den Wiederaufnahmeantrag entschieden ist.

 

Der Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens

Das Wiederaufnahmeverfahren verläuft dreistufig:

 

1. Aditionsverfahren

Im Aditionsverfahren wird die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags geprüft. Hierzu gehört auch, dass der Antragssteller den Wiederaufnahmegrund schlüssig behaupten muss.

 

2. Probationsverfahren

Im Probationsverfahren wird richterlich überprüft, ob der behauptete Wiederaufnahmegrund tatsächlich vorliegt.

 

3. Neuverhandlung

Falls die Überprüfung zu dem Schluss führt, dass der Wiederaufnahmeantrag begründet ist, wird der Sachverhalt unter Wegfall des alten Urteils neu verhandelt.

 

Das Wiederaufnahmeverfahren ist komplex und hat erfahrungsgemäß nur sehr geringe Erfolgsaussichten. Bereits für die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags sind dem Verurteilten durch Gesetz und Rechtsprechung hohe Hürden gestellt. Dies hat auch der Gesetzgeber erkannt, der daher die Mitwirkung eines Rechtsanwalts im Verfahren für obligatorisch erklärt hat – gemäß § 366 StPO kann der Antrag nur in Form eines vom Verteidiger oder einem anderen Rechtsanwalt unterzeichneten Schriftsatzes eingereicht werden – und zudem die Möglichkeit geschaffen hat, dass dem Verurteilten auf seinen Antrag bereits zur Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens ein Verteidiger bestellt wird (§ 364b StPO).

 

Die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags

In welchen Fällen ein Wiederaufnahmeantrag zugunsten des Verurteilten zulässig ist, ergibt sich abschließend aus § 359 Nr. 1-6 StPO. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine in der Hauptverhandlung als echt vorgebrachte Urkunde verfälscht war oder wenn ein zu seinen Ungunsten aussagender Zeuge sich dabei der vorsätzlich falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat. Wesentlich ist § 359 Nr. 5 StPO, der vorgibt, dass ein Wiederaufnahmegrund vorliegt, wenn

 

 „neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind“.

 

Was sind „neue Tatsachen oder Beweismittel“?

Niemals ausreichend für einen Wiederaufnahmeantrag sind neue rechtliche Tatsachen, beispielsweise der Wegfall oder die Änderung des Strafgesetzes, aufgrund dessen die Verurteilung erging, oder eine Änderung der Rechtsprechung zugunsten des Verurteilten.

 

„Tatsachen sind nicht deshalb neu, weil sie in dem schriftlichen Urteil nicht erwähnt sind“, formuliert das Thüringer Oberlandesgericht (Beschluss vom 02. April 2013 - 1 Ws 391/12) und stellt damit fest: Neu sind Tatsachen nur dann, wenn sie nicht in der Hauptverhandlung erörtert worden sind. Ob sie letztlich ihren Niederschlag in den Urteilsgründen gefunden haben, ist nicht relevant. So ist ein Zeuge auch kein „neues“ Beweismittel, wenn das Gericht seine Aussage im Rahmen der Urteilsbegründung schlicht übersehen oder missverstanden hat, solange er in der Hauptverhandlung vernommen wurde.

 

Unbekannte oder ungenutzte Beweismittel

Gemeint sind stattdessen vollständig unbekannte oder ungenutzte Beweismittel, solange sie grundsätzlich geeignet sind, allein oder in Verbindung mit anderen Beweisen eine Freisprechung, eine geringere Bestrafung oder eine andere Entscheidung über Maßregeln zu begründen. 

 

Dies kann beispielsweise ein Zeuge sein, der in der Hauptverhandlung nicht oder nur zu anderen Beweistatsachen gehört worden ist, zum Beispiel, weil er seine Aussage verweigert hat und diese auch nicht auf anderem Wege in die Hauptverhandlung eingebracht worden ist. Ein Sachverständiger ist dann ein neues und geeignetes Beweismittel, wenn das Gericht aufgrund seiner eigenen Sachkunde entschieden hat, obwohl es einen Sachverständigen hätte heranziehen müssen. 

 

Nicht geeignet ist dagegen beispielsweise ein Zeuge, der über zehn Jahre zurückliegende Ereignisse berichten soll, da insofern an seinem Erinnerungsvermögen gezweifelt wird. Ebenso wenig geeignet ist ein Lügendetektortest, da die Rechtsprechung das Ergebnis einer Polygraphie als völlig ungeeignetes Beweismittel ansieht. 

 

Zielsetzung des Antrags

Ziel der Antragsstellung muss sein:

  • die Freisprechung des Verurteilten,
  • die Verfahrenseinstellung wegen dem Fehlen von Prozessvoraussetzungen (z.B. der Strafmündigkeit),
  • eine wesentlich andere Entscheidung über die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung oder
  • die Bestrafung aufgrund eines milderen und anderen Gesetzes.

Nicht zulässig ist es dagegen, nur eine andere – mildere – Strafzumessung oder nur die Strafaussetzung zur Bewährung zu begehren.

 

Die Begründung des Wiederaufnahmeantrags

Ein Wiederaufnahmeantrag muss sorgfältig und umfassend begründet sein. Ein neues Beweismittel muss genau bezeichnet sein und es muss dargelegt werden, was bewiesen werden soll und inwiefern hierdurch das Ziel der Antragsstellung erreicht wird.

 

Bestehen Zweifel an der Geeignetheit der neuen Beweismittel oder Tatsachen, wird das zuständige Gericht den Wiederaufnahmeantrag verwerfen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt insoweit nicht. Ebenso verwirft es den Antrag bei formellen Mängeln, zum Beispiel einer unvollständigen, nicht in sich schlüssigen Darlegung, als unzulässig.

 

Risiken für den Antragssteller?

Die Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens beinhaltet von der Kostenfolge abgesehen grundsätzlich keine weiteren Risiken für den Verurteilten als Antragssteller; das Urteil kann nachträglich nicht zu seinem Nachteil abgeändert werden.

 

Dennoch sollte sich der Verurteilte nicht zu einem Wiederaufnahmeantrag verleiten lassen, wenn das Verfahren in seinem Fall von vorneherein keinerlei Aussicht auf Erfolg bietet. Stattdessen empfiehlt es sich manchmal, die Möglichkeiten der Verteidigung im Vollstreckungsverfahren auszunutzen, beispielsweise durch einen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes oder Lockerungen des Vollzugs. Ein Strafverteidiger kann Sie zu den Erfolgsaussichten eines Wiederaufnahmeverfahrens beraten und für Sie entweder einen Wiederaufnahmeantrag verfassen oder Sie über sinnvolle Alternativen aufklären.

 

Strafverteidigung im Wiederaufnahmeverfahren

Das komplexe Wiederaufnahmeverfahren erfordert seitens des Strafverteidigers genaue Kenntnisse des materiellen und prozessualen Strafrechts. Sie sollten hierbei auf die Erfahrung eines Rechtsanwalts zurückgreifen, der sich gänzlich auf das Strafrecht spezialisiert hat. Rechtsanwalt Dr. Jörg Becker ist bereits seit 2007 Fachanwalt für Strafrecht. Seit dem Jahr 2017 ist auch Rechtsanwalt Patrick Welke Fachanwalt für Strafrecht. Wünschen Sie eine Beratung hinsichtlich der Erfolgsaussichten eines Wiederaufnahmeverfahrens, rufen Sie unsere Kanzlei in Mannheim unter der Telefonnummer

 

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